Kommentar von Wolfgang Götze

Speisekammer Natur

Schildkröten, Schuppentiere, Wale in Asien und Afrika als Lebensmittel-Lieferanten. Allesamt sind es vom Aussterben bedrohte Tierarten. Hierzulande löst dies bei vielen Menschen Abscheu und Empörung aus. Aber können wir unsere Hände in Unschuld waschen?

Das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten kann mehrere Ursachen haben, darunter auch die Nutzung als Nahrungsmittel für den Menschen. Denken wir bei uns an den Auerochsen. Einerseits war er begehrte Jagdtrophäe, andererseits kam so ein ordentlicher Braten auf den Tisch – bis er aus den europäischen Landschaften verschwunden war. Glücklicherweise überlebten einige Wisente in unzugänglichen, osteuropäischen Wäldern. Ähnlich ist die Situation beim Helgoländer Hummer.

Noch heute gehen in unseren Breiten die Raubzüge an der Natur weiter. Am eindrucksvollsten ist dies in unseren Meeren zu beobachten. In der Ostsee sind Dorsch und Hering in ihren Beständen bedroht. Ein Drittel der jährlichen Fangmenge von 4.400 Tonnen (2020) geht auf das Konto von Freizeitanglern. Wie der Mensch zum Nimrod wird, lässt sich jedes Frühjahr an den Kaimauern der Ostsee erleben. Schulter an Schulter stehen hier Angler von Nah und Fern und ziehen an guten Tagen Heringe im Minutentakt aus dem Wasser. Oft gehen die Mengen deutlich über den Eigenbedarf hinaus. Im Herbst entwickelt sich ein ähnliches Phänomen, wenn es heißt: „Gehen wir in die Pilze!“. Kürzlich begegnete ich auf einem Waldweg einer Familie, alle beladen mit riesigen Körben, die von Pilzen überquollen. Es entwickelte sich ein kurzer Dialog: „Sie haben ja viele Pilze gefunden. Aber ich sehe da eine Menge ungenießbare oder sogar giftige Exemplare wie diesen scheinbaren Steinpilz, der aber ein Satanspilz ist.“ Antwort: „Das macht nichts. Wir gehen zur Pilzberatung und lassen alles durchsortieren. Den Rest schmeißen wir dann weg.“ Unwissenheit oder pure Ignoranz – der Schaden ist angerichtet. Nicht umsonst haben Italien und Österreich strenge Regelungen zum Schutz der Pilzbestände erlassen.

Der Wunsch nach Nahrungsmitteln aus der Natur wächst. Dies spiegeln auch Speisekarten in Restaurants wider. Wildkräutersalate allerorten, doch die scheinbar wilden Kräuter sind (glücklicherweise) fast immer frühe Wachstumsphasen von Kulturpflanzen. Der Wildblumenkohl entpuppt sich als violette Variante des kultivierten Blumenkohls. Betrachten wir es als harmlose Wortkreationen.

Weit weniger harmlos sind dagegen auf dem Markt auftauchende Produkte wie Erzengelwurz und Thymian aus den hochsensiblen Ökosystemen Grönlands. Das klingt nach einem schnellen Raubzug in polaren Lebensräumen. In einem skandinavischen Kräuterbuch finden sich sogar Hinweise auf äußerst seltene Lilienarten, die mit Stumpf und Stiel in Strandhaferdünen gesammelt werden sollen.

Und noch eine neue Form der „Naturspeisekammer“ scheint sich im Norden zu entwickeln. Hier entstand bei Spitzenköchen auf der Suche nach Authentizität eine Rückbesinnung auf die Angebote der regionalen Natur. Begierig wird diese Idee jetzt von der Tourismuswirtschaft aufgegriffen und in ihre Marketingstrategien eingearbeitet. Auch bei uns steigt die Zahl der Urlaubsangebote mit Pilzexkursionen, Wildkräuter-Seminaren etc., die oft mit entsprechenden Kochkursen – am besten unter freiem Himmel in den Sammelgebieten – verbunden werden. So wird die Nahrungsbeschaffung zum gedankenlosen Freizeitevent und die Lebensmittel aus der Natur drohen zum banalen touristischen Objekt des Amüsements zu verkommen, auf dass die Speisekammer Natur bis auf die letzten Reste geplündert wird.